01.10.2013 | Abendzeitung | Michael Stadler

 

Julie Van den Berghe inszeniert den berühmten, unvollendeten Roman mit Stefan Hunstein und Christian Löber als Hauptfiguren

 

Nein, meint Julie Van den Berghe, sie war noch nie in den Amerika. Das mache aber auch nichts. Ganz im Gegenteil, immerhin ist auch Kafka niemals dort gewesen. Kafka hat dennoch zwischen 1911 und 1914 einen Roman über einen jungen Mann geschrieben, der, weil er ein Dienstmädchen geschwängert hat, von seinen Eltern in die Neue Welt verfrachtet wird. Laut Tagebucheinträgen und Briefen wollte Kafka den Roman „Der Verschollene“ nennen. Sein Verleger Max Brod aber, der 1927 das unvollendete Werk postum veröffentlichte, nannte es nach dem Ort des Geschehens: „Amerika“. So lautet nun auch der Titel der Theater-Adaption der 32-jährigen Regisseurin Julie Van den Berghe in der Spielhalle der Kammerspiele.
 
Das Haus habe ihr den Roman vorgeschlagen, erzählt sie, „mich reizte, dass er von einer Identitätssuche erzählt. Erst, indem man sich mit anderen verbindet, kann man jemand werden. Die anderen definieren dich. Das ist ein Kampf, unter dem jeder auch leidet.“ Der junge Karl Roßmann hat es schwer, in Amerika Fuß zu fassen: Nur kurz kann er sich im Landhaus seines reichen Onkels aufhalten, arbeitet dann als Liftboy in einem Hotel, findet sich später in einem Hochhaus wieder. Er wird immer wieder aufgenommen, ausgenutzt, verstoßen von seiner Umwelt. Die vielen Ortswechsel machen Julie Van den Berghe dabei wenig Kopfzerbrechen. Vieles kann auf der Bühne behauptet werden: „Da Kafka nie in Amerika war, geht es eben auch um die Fantasie, was in Karls Kopf passiert. Und was ist schöner, als im Theater etwas über Imagination zu erzählen?“
 
Gleich zwei Schauspieler werden Karl spielen, Stefan Hunstein und Christian Löber, wobei Löbers Karl in den Augen Van den Berghes auch Kafka selbst sein könnte. „Vor ein paar Tagen haben wir in Kafkas Biographie zufällig entdeckt, dass er ursprünglich über die Reise zweier Brüder schreiben wollte, der jüngere bleibt im Gefängnis in Prag, der ältere geht nach Amerika. Wir waren also auf der richtigen Spur!“ Kafkas Verleger Max Brod meinte, dass ihn der Roman an die Filme von Charlie Chaplin erinnere, eine Sicht, die Van den Berghe teilt. Zusammen mit ihren Schauspielern schaute sie sich viele Chaplin-Filme an, „die Körpersprache nimmt einen großen Teil der Performance ein.“ Ihr Theater ist eines der poetischen Bilder, wie man bei ihrer erste Inszenierung für die Kammerspiele vor zwei Jahren, „Agatha“ von Marguerite Duras, sehen konnte. Johan Simons Ehefrau, Elsie de Brauw, war eine ihrer Lehrerinnen an der Theaterschool in Amsterdam. Nach einigen Zusammenarbeiten schlug de Brauw die junge Regisseurin fürs NT Gent vor, wo Simons Intendant war.
 
Als Van den Berghe erstmals dort Regie führte, war er jedoch schon Chef der Kammerspiele. Am NT Gent, wo sie heute Hausregisseurin ist, inszenierte sie 2008 „India Song“ nach einem Film von Marguerite Duras. Das Werk der Französin Duras gefällt Van den Berghe, „es gibt diese Stimmung von Aussichtslosigkeit, die aber fast etwas Schönes bei ihr hat.“ Bei Kafka kann die Atmosphäre bedrückend sein, der Lärm der Großstadt, die Machtstrukturen, in denen Karl sich verfängt. Schon im Leben ihrer Tochter könne sie solche Mechanismen erkennen, so Van Den Berghe, „im Kindergarten geht es bereits darum, wer das Sagen hat, wer wen verletzen darf – und die sind erst fünf Jahre alt!“ Kafka starb 1924 vor der Vollendung des Romans.
 
Dennoch empfindet Van den Berghe „Amerika“ nicht als ein unfertiges Werk: „Karl sitzt zuletzt im Zug, das ist wie im Film: der Cowboy, der in den Sonnenuntergang reitet, ins Ungewisse. Aber allein dieses Weggehen ist doch ein klares Ende.“ Karl fände zu einer Form der „totalen Selbstakzeptanz“, was man vielleicht auch als seinen Tod interpretieren könnte. Julie Van den Berghe möchte sich da nicht festlegen. Aber wer braucht auch schon ein Happy End? „Für mich ist es viel wichtiger, sich nach dem Glück zu sehnen als es zu finden.“

 

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